Nach meiner drei Monate langen Pilgerreise zu Fuß auf dem Jakobusweg von zu Hause bis nach Santiago de Compostela im Jahr 2007 hat es mich einfach wieder gejuckt, noch einmal eine Auszeit zu nehmen und monatelang auf eigenen Füßen unterwegs zu sein. Der eigentliche Traum war zwar nach Jerusalem zu pilgern, die politischen Verhältnisse, insbesondere in Syrien, lassen dies aber sicher für unbestimmte Zeit nicht zu.
Von Mexiko nach Kanada?!
Ich habe mich daher etwas umorientiert und allgemein nach Fernwanderwegen geschaut. Dazu fiel mir alsbald der Appalachian Trail an der Ostküste der USA ein, von dem ich schon sehr viel früher gehört hatte. Beim Sichten der (umfangreichen) Informationen darüber kamen aber immer öfter die drei Buchstaben „PCT“ vor. Sie stehen für den „Pacific Crest Trail”, einem 2.650 Meilen (ca. 4.265 km) langen Weg an der Westküste der USA von der mexikanischen bis hoch an die kanadische Grenze. Tja, und nachdem ich die ersten Beschreibungen und Berichte gelesen und vor allem die Fotos und Videos gesehen hatte, war es eigentlich schon um mich geschehen: der „Thru-Hike”, also die Bewältigung der gesamten Strecke von Mexiko nach Kanada zu Fuß am Stück in einer Saison sollte mein „Next Big Thing” werden! Klingt doch verrückt genug, oder?
Vorbereitung
Wie schon beim Jakobusweg musste der Gedanke an den PCT einige Zeit reifen (insgesamt fast 2 Jahre) und es war eine Menge von Dingen zu klären und zu erledigen. Natürlich war da zuallererst die spannende Frage, ob mich PASS noch mal, und diesmal sogar sechs statt drei Monate, „ziehen“ lassen würde. Obwohl der Eine oder die Andere, der/die über meine Anfrage zu entscheiden hatte, etwas schlucken musste, gab es erfreulicherweise grünes Licht. Ich weiß diese Großzügigkeit sehr zu schätzen und bin dankbar, dass mir die Firma auch diese zweite Auszeit ermöglicht hat!
Nachdem dies geklärt war, mussten die weiteren notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden. Zwei wesentliche davon sind das Visum für den längeren Aufenthalt in den USA und das Permit für den Trail. Das Visum bekommt man, nachdem man einen mit sehr umfangreichen Fragen gespickten Online-Antrag gestellt und bei einem Interviewtermin auf einem amerikanischen Konsulat (in meinem Fall in Frankfurt/Main) glaubhaft dargelegt hat, warum man gerne in die USA möchte und dass man nach einer Zeitlang aber auch gerne wieder nach Hause zurückkehren wird. In meinem Fall verlief alles glatt und ohne großen Aufwand ab.
Etwas stressig wurde es beim zweiten Punkt, dem Permit. Dieses Permit erlaubt einem, die sieben Nationalparks und andere geschützte Gebiete, durch die der Weg führt, zu durchqueren. Das Permit wird von der nichtstaatlichen PCT Association in einem Online-Verfahren vergeben. Der Haken dabei: das Permit gilt nur für einen bestimmten Starttag und pro Tag werden nur 50 Permits vergeben. Da jedes Jahr so ca. 3.000 Hiker auf den Weg starten wollen, entsteht ein Run auf die günstigsten Starttermine im April und Mai und das Ganze wird zu einer wahren „Klickorgie“ auf dem träge antwortenden Webserver der PCTA kurz nach Freischaltung der Registrierungsseite. Ich war heilfroh, als ich nach einer Stunde des Bangens die Bestätigung für das Permit mit meinem Wunschtermin bekam.
Nachdem auch diese Hürde genommen war und noch die ganzen anderen Dinge wie Krankenversicherung abschließen, Flüge buchen, „Gear“ von Zelt, Rucksack, Schlafsack, Matte bis zu Gaskocher und ultraleichter Schaufel für das tägliche „Cathole“ beschaffen usw. erledigt waren, ging es letztes Jahr nach Ostern endlich in den Flieger. Am 6. April kam dann der große Moment: ich stand an der Grenze zu Mexiko am „Southern Terminus“, dem südlichen Ausgangspunkt für den PCT. Und nach einem letzten „Good luck!“ ging es endlich los!
Was den Weg ausmacht
Das Motto in der Artikelüberschrift reimt sich auf Englisch so schön und beschreibt eigentlich schon (fast vollständig) sowohl Tagesinhalt als auch -verlauf der nun folgenden Wochen und Monate: meist um die 12 Stunden am Tag Schritt für Schritt vorankommen, dem Körper die verbrauchte Flüssigkeit und die verbrannten Kalorien zurückgeben und ihm die benötigte Ruhe gönnen, damit es am nächsten Tag weitergehen kann und auch am übernächsten und überübernächsten…
Der Weg windet sich über mehr oder weniger sanft hügeliges Land, durch Wüste, auf und über hohe Pässe, durch Wälder, durch Bäche und über Flüsse. Ausblick reiht sich an Ausblick, Steigung an Abstieg, Serpentine an Serpentine. Der Lauf der Sonne zeigt, wie die Zeit vergeht. Es ist kalt, es ist heiß, es geht ein lauer Wind oder es stürmt, es regnet (zum Glück kaum) oder schneit sogar (noch seltener).
Aber der Weg und die Natur als solche sind lange nicht alles: It’s about people! Da sind in erster Linie die anderen Hiker. Vordergründig haben ja alle das gleiche Ziel: Kanada. Im Inneren bringt jedoch jeder seine ganz eigenen Gefühle, Gedanken und Ziele mit auf den Weg. Jeder hat seine Geschichte, die er mal mehr, mal weniger (mit)teilt. Die für alle außergewöhnliche Situation abseits von Alltagszwängen und Ablenkungen erlaubt es eben, sich zu öffnen und es entsteht dieses starke Gemeinschaftsgefühl.
Dann sind da noch die hilfreichen „Trail Angels“: Menschen aus der näheren oder manchmal auch erstaunlich ferneren Umgebung, die sich den Hikern verbunden fühlen. Sie kümmern sich, dass diese zu trinken bekommen, wo die natürlichen Wasserressourcen fehlen oder knapp sind. Zudem bringen sie leckeres Essen direkt an den Trail oder fahren die Hikers vom Trail in den nächsten Ort oder wieder zum Trail zurück. Es sind solche Begegnungen in einer Atmosphäre der Freundlichkeit und Großzügigkeit, die einen großen Teil des Weges ausmachen.
Plan und Plan B
„Do you want to do the whole thing?“ lautete oft die Frage von Wanderern oder Spaziergängern, die jeweils nur ein Stück des Weges gingen. Meine Antwort war meist „Yes, that’s the plan“. In mehr als 5 Monaten und auf über 2.600 Meilen kann aber eine Menge passieren. So schaffen es jährlich auch nur um die 20 %, der mit großen Hoffnungen gestarteten Hiker, tatsächlich jede einzelne Meile bis Kanada zu Fuß zurückzulegen. Es braucht eben mehr als nur einen Plan, um ein solches Vorhaben umzusetzen: das Wichtigste ist die Einstellung, es zu schaffen, denn neben den schönen Tagen gibt es natürlich solche, an denen es bitter kalt ist, es regnet, gewittert oder schneit, einen Durst und Hunger oder auch Erschöpfung sowie Schmerzen plagen. In solchen Situationen nicht aufzugeben, erfordert schon eine gewisse mentale Kraft. Eine gängige Aussage dazu ist sogar, dass mentale Faktoren deutlich wichtiger sind, als die physische Konstitution eines Hikers.
Allerdings hat für mich das Ganze dann Grenzen, wenn objektive Gefahren auftauchen, denen ich mit meinen momentanen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen nicht gewachsen bin. Dies war der Fall, als ich nach den anfänglichen knapp 800 Meilen/ca. 1.280 Kilometern, die ich so wunderbar problemlos geschafft hatte, in der High Sierra nach der Überquerung des Forester Pass (mit etwas über 13.000 feet/ca. 4.000 m auch der höchste Punkt auf dem PCT) eine Nacht in Regen, Hagel, Schnee und Gewittern verbringen musste. Es war der Anfang von einem Wetterumschwung, nach einem eigentlich schneearmen Winter zogen in den Hochlagen des Gebirges tagelange Schneefälle und -stürme auf. Da ich nur sehr wenig Bergerfahrung habe und mir schon in den Tagen davor die Höhenlagen ab 9.000 feet/ca. 2.700 m zu schaffen gemacht hatten, blieb keine große Wahl: der Kearsarge Pass war mein Notausgang runter ins Tal. In den folgenden Tagen wurde dann deutlich, dass sich die Situation in den Bergen auch in den nächsten ein bis zwei Wochen nicht deutlich verbessern würde. Um nicht zu viel Zeit mit dem Warten auf Tauwetter zu verlieren, habe ich dann notgedrungen ca. 700 Meilen mit Bus und Bahn nach Norden übersprungen und bin dann ca. 400 Meilen in südlicher Richtung auf die High Sierra zugelaufen, in der Hoffnung, dass sich bis dahin die Schneesituation verbessert hat. Der Plan B ging aber nicht ganz auf: am nördlichen Beginn der High Sierra wurde deutlich, dass es immer noch Wochen dauern würde, bis der Frühjahrsschnee getaut ist. Also bin ich, diesmal komplett mit Greyhound-Bussen, zurück nach Norden gefahren, um die restlichen ca. 1.200 Meilen bis an die kanadische Grenze wieder in der „richtigen“ Richtung zu Fuß zurück zu legen. Es war auf jeden Fall eine schwere Entscheidung, die High Sierra auszulassen und den „Thru-Hike“ formal nicht geschafft zu haben, aber ich bereue sie auch im Nachhinein nicht.
Fazit
Ein Fazit zu ziehen fällt mir generell schwer, vorbei ist vorbei. 129 Tage und 2.360 Meilen / 3.800 Kilometer zu Fuß lassen sich eben auch nicht einfach so „zusammenfassen“.
Ein Aspekt im Rückblick ist die physische Seite einer solchen Fernwanderung. Ja, es war oft anstrengend und außerhalb meiner Komfortzone. Ja, in der geschilderten Situation in der High Sierra habe ich meine Grenzen gesehen. Insgesamt musste ich aber nie über meine Grenzen gehen. Dazu haben sicher die Vorbereitung und die Vorerfahrungen vom Jakobusweg beigetragen, aber auch, dass ich es geschafft habe, meinen Ehrgeiz zu zügeln und nicht kalkulierbare Risiken zu vermeiden. Im Ergebnis bin ich gesund und ohne größere Blessuren mit gut 10 kg weniger auf den Rippen in Kanada angekommen.
In mentaler Hinsicht war die Zeit für mich die pure Erholung. Unterwegs „da draußen“ fokussiert sich das Leben halt ganz elementar auf die wesentlichen Dinge („…, drink, eat, sleep, …“). Die Herausforderungen sind überschaubar und man hat sich ihnen ja freiwillig gestellt (oder?). Dazu kommt die befreiende Erfahrung, mit „wie viel Wenig“ man auskommt, denn man kann einfach keinen Ballast mit sich herumtragen.
Schließlich hatte mein Weg auch eine spirituelle Dimension. Für mich gibt es klare Parallelen zum Jakobusweg, auch wenn man einen Thru-Hike eher nicht als „Pilgerreise“ bezeichnen würde. Im Wikipedia-Artikel sind zum Stichwort „Spiritualität“ eine ganze Reihe von deren Ausdrucksformen gelistet, u.a. sind dies: Geborgenheit und Gottvertrauen; Mitgefühl; Großzügigkeit und Toleranz; achtsamer Umgang mit sich selbst, anderen und der Umwelt; Gleichmut und Meditation. All dies habe ich unterwegs sehr intensiv erlebt und verbinde mit jedem Begriff mindestens eine bleibende Erinnerung.